Alice Detjen

Die Unlesbarkeit der Welt

Dass lesen als Methode der Weltaneignung eine kulturelle Technik ist, die seit jeher universal und vom alphabetischen Code unabhängig praktiziert wird, hat Hans Blumenberg mit der Lesbarkeit der Welt umfassend beschrieben. Die Rede vom Buch der Natur ist eine von vielen Metaphern die zeigt, dass die Vorstellung von der kognitiven Inbesitznahme durch den Akt des Lesens schon lange sprichwörtlich ist.
In ihrem 2006 vom Materialverlag der Hochschule für bildende Künste Hamburg herausgebrachten Künstlerbuch Dickicht scheint Sabina Simons dem Leser gerade diesen Zugang verweigern zu wollen; denn wo der Titel bereits Undurchdringlichkeit und Undurchsichtigkeit als Motiv signalisiert, wird diese innerhalb des Buches zur wahrhaftigen Unleserlichkeit gesteigert: tatsächlich sind es durchgestrichene Manuskriptblätter, die den Fotografien von Waldlandschaften auf insgesamt 37 Seiten gegenübergestellt werden, paarweise oder als Triptychen angeordnet. Die Farbaufnahmen sind auf Wanderungen entstanden, der wohl ursprünglichsten Form der Welterkundung. Sie zeigen Waldlichtungen, Unterholz, Tümpel und – Dickicht. Nur selten gibt es einen Hinweis auf die Anwesenheit oder auch nur Existenz von Mensch oder Tier. Um so mehr sucht der Betrachter nach Spuren, welche die Orte identifizierbar machen und in einen Zusammenhang bringen könnten. Es sind die Spuren der jahreszeitlichen Veränderungen und die Kraft der Elementargewalten, die sich in die Natur eingeschrieben haben; graues Eis und weißer Schnee, rostrot verfärbte Blätter, umgeknickte, moosige Äste und entwurzelte Bäume, fahlgelbes abgestorbenes Gras. Die Natur auf Simons Fotografien bildet ein dichtes Geflecht, das sich dem Betrachterblick entgegenstellt und den Zutritt zum Bildraum erschwert; eine Anmutung, die von der matten Oberflächenqualität des Papiers noch gesteigert wird. Ebenso entziehen sich die bereits erwähnten Manuskriptseiten der Wahrnehmung des Lesers: Sie sind größtenteils durchgestrichen und vielfach unleserlich gemacht, weisen Brandlöcher und die Einwirkung von Wasser auf. Offenbar ist das Manuskript, ganz ähnlich wie die Natur, aufgegeben und sich selbst und den Einflüssen der Witterung überlassen worden. Der handschriftlich verfasste Text, soweit er leserlich ist, dreht sich um Wahrheit und Erkenntnis, und erzählt auch darin von einer Suche. Dem Dickicht in der Natur stellt Simons ein sprachliches gegenüber, und schickt so den Betrachter auf eine Suche. Das objet trouvé birgt offenbar eine Geschichte in sich: Wie gingen die Zeilen verloren? War sich der Verfasser ihrer nicht mehr sicher? Hatte selbst er den Zugang zu ihnen verloren? Seite um Seite wird der Betrachter zugleich zurückgewiesen und aufgefordert, den ausgelegten Fährten zu folgen. So nimmt das Lesen die Züge einer detektivischen Suche an, bei der Spuren zu Indizien gedeutet und zu einem Geflecht verknüpft werden wollen, das narrative Muster bildet. Die Seiten von Dickicht funktionieren jedoch kaum als konventionelle Suchbilder, aus denen lediglich der rote Faden entwirrt werden müsste. Vielmehr bietet Simons Raum für eine individuelle Auseinandersetzung, indem sie dem Leser die Möglichkeit gibt, diese Suche zu hinterfragen. Innerhalb der bereitgestellten Wahrnehmungsanordnung wird so der Anteil des Betrachters zum eigentlichen Material der Inszenierung, und auf diese Weise der gedankliche Zugang zum Dickicht möglich. Mit dem analytischen Zugriff auf ihr Thema folgt Simons der Tradition der Konzeptkunst, ihr Sujet erinnert jedoch auch an späte Waldstücke Caspar David Friedrichs. Dort wird häufig der Betrachterblick durch gitterartig angeordnetes Astwerk oder dichte Bewaldung versperrt, und motivisch das Zeigen im Verbergen als genuin bildkünstlerisches Thema markiert.
Mit der Wahl eines äußerlich wie innerlich hermetischen Textes und Fotografien, deren Sujets sich dem Blick zunächst entgegenstellen, bevor sie sich ihm öffnen, reflektiert die Künstlerin klug und poetisch über die "Unzugänglichkeit" der Welt und die Dialektik möglicher Wege der Erschließung. Nicht zuletzt befragt Sabina Simons auch das Medium Buch, indem sie uns hin- und herblättern, suchen, und nicht linear entziffern und so den wahrnehmungskritischen Grund erahnen lässt, der unter dem Dickicht verborgen liegt.